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DAS passiert in Kriftel

Juniorwahl soll zu Demokratie "erziehen"

Engagement in der Politik? "Zu viel Arbeit“

In Kinder wurde schon immer viel hineinprojiziert. Da gab es Wunschkinder, Wunderkinder oder Kinder des Zorns. Herbert Grönemeyer forderte schon 1986 programmatisch in seiner Hymne Kinder an die Macht „Die Welt gehört in Kinderhände“. Am Donnerstag, den 5. Oktober, zwei Tage vor der Hessenwahl, durften in Kriftel die Kinder und Jugendlichen unter 18 schon einmal ihre Meinung kundtun. In der Aula der Weingartenschule und im Freizeithaus neben der Schule konnte jeder, der wollte, sein Kreuzchen bei der Partei seiner Wahl machen. Geheim und freiwillig, wie in einer Demokratie üblich. Unabhängig von Herkunft, Nationalität, Aufenthaltsstatus und Bildungshintergrund. Die Juniorwahl 2023 stand an. Und zwar nicht nur in Kriftel, sondern in ganz Hessen.

Vorbild USA: KidsVoting mit 8 Millionen Schüler/innen

Die Idee dazu hatte im September 1999 Professor Jürgen Falter in der Talksendung „Sabine Christiansen“. Dort plauderte er von seinen Erfahrungen während seiner Gastprofessur in den USA und den Erlebnissen mit der dortigen Initiative KidsVoting, die heutzutage an über 10.000 Schulen und mit mehr als 8 Millionen Schülerinnen und Schülern durchgeführt wird.

Dies war die Geburtsstunde der Juniorwahl, die 1999 erstmalig an drei Schulen in Berlin durchgeführt wurde. Seitdem wurde die Juniorwahl bundesweit parallel zu 52 Landtagswahlen, fünf Bundestagswahlen und vier Europawahlen durchgeführt. Zusätzlich sind seit der Europawahl von 2004 Deutsche Auslandsschulen auf allen Kontinenten in die Juniorwahlen zu den Bundestags- und Europawahlen eingebunden. Seit 1999 bundesweit in allen 16 Bundesländern durchgeführt, zählt sie zu den größten deutschen Schulprojekten.  Zur Bundestagswahl 2021 beispielsweise beteiligten sich 1,5 Millionen Jugendliche an über 4.500 Schulen und den deutschen Auslandsschulen. Lydia Rauh von der mobilen Beratung Kriftel, diesmal als Wahlhelferin tätig, findet das richtig: „Kinder und Jugendliche sollen sich mit dem politischen Geschehen beschäftigen und für sich eine Wahlentscheidung treffen.“

Die Idee kommt nicht von ungefähr. Denn angesichts zentraler gesellschaftlicher Herausforderungen wie zunehmendem Extremismus und Populismus, der damit zusammenhängenden Verschärfung des politischen Diskurses sowie einer auch bei jungen Menschen ausgeprägten Skepsis gegenüber politischen Institutionen kommt der politischen Bildung eine hohe Bedeutung zu.

Auch Semira Buch, Honorarkraft des Freizeithauses, findet eine simulierte Wahl für junge Schülerinnen und Schüler wertvoll: „So übt man schon früh demokratische Regeln und lernt deren Bedeutung kennen.“ Sie ist an diesem Tag mit Lydia Rauh als Begleiterin im Freizeithaus tätig.

Wahlplakate kritisch begutachtet

Der stellvertretende Schulleiter Alexander Heyd und seine junge Kollegin Marlene Krüger sind mit ihren Klassen dabei. Rund 40 Jugendliche stehen draußen vor dem Freizeithaus und wedeln mit ihrer Wahlberechtigung. Die haben sie im Unterricht bekommen. Nur wer sie vorweisen kann, darf wählen. Alles soll so echt wie möglich sein. Sogar Erst- und Zweitstimme können diesmal vergeben werden. Nur die Wahlzettel sind kleiner. Drinnen ist alles so arrangiert, wie es sich dann am 8. Oktober für die erwachsenen Wahlberechtigten über 18 darbietet. Inklusive Wahlzettel, Wahlkabinen und Urnen.

Aus dem Ergebnis soll sich ein politisches Stimmungsbild der Kinder ergeben. Powi-Lehrerin Marlene Krüger hat die Programme der Parteien mit ihren Schützlingen durchgeackert und Wahlplakate einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen. Dabei wurden auch die wichtigsten Haltungen und Themen für die Schüler zusammengefasst. Dabei fiel ihnen gemeinsam auf, wie sperrig und kompliziert die meisten Wahlprogramme sind. „Die Sprache der Parteien ist oft erschreckend nichtssagend“, lautet das Resümee. Ein Satz wie “Der Souverän ist das Volk“ sei schwer verständlich und verwirre mehr, als dass er informiere, so Krüger. Die Jugendlichen wollten es kurz und knackig.

Manche wissen gar nicht, was sie hier sollen. „Müssen wir hier wählen“, fragen ein paar Vorwitzige. „Bringt doch nichts.“ Es sei eher genau das Gegenteil der Fall, findet Schülerin Sarah: „Es geht doch um unsere Zukunft!“ Ihre Klassenkameradin ergänzt: „Wir sind die Zukunft.“ Beide finden es gut, dass es „hier freie Wahlen gibt“. Es sei „eine Chance, mitzuerleben, was Demokratie bedeutet“.

Bürgermeister Seitz: „Engagiert Euch, Ihr seid die Zukunft!“

Verunsichert hatten einige Schüler ihre Ergebnisse im Wahl-O-Mat. Da kamen nämlich auch schon mal unerwünschte Präferenzen zum Vorschein. „Wir waren plötzlich auf einer ganz anderen Seite“, berichten die Schüler, die sich offensichtlich politisch woanders verortet hatten. Manchmal konfrontiere eben die Entscheidungshilfe Wahl-O-Mat einen selbst mit einer Partei, die man eigentlich für sich ausgeschlossen habe, weiß Alexander Heyd zu berichten. Besonders wichtig sind den Jugendlichen Themen wie Klimaschutz, Digitalisierung (überwiegend von Jungs geäußert) und Innere Sicherheit.

Beim Thema, ob es richtig sei, mit 16 schon wählen zu dürfen, sind sich die jungen Wähler generell nicht einig. Viele finden, es sei zu früh. „Man lässt sich zu sehr beeinflussen, kann viele Entwicklungen noch nicht richtig einschätzen, fasst es Schüler Jarne zusammen. Alexander Heyd weiß aus seiner Erfahrung zu berichten, dass die meisten Schüler sich eher wenig für Politik interessieren. Kaum einer möchte sich später politisch engagieren. „Zu viel Arbeit“, „zu wenig Freizeit“, heißt es zu den Gründen.

Einer, der es wissen muss, weil er seit 2006 Kriftels Bürgermeister ist, wirbt aber immer wieder genau dafür: „Engagiert Euch – Ihr seid die Zukunft und müsst unser Land und unsere Gemeinde zukünftig mitgestalten“, so Christian Seitz. Er kam aus Interesse bei der Juniorwahl vorbei. Er findet es schade, dass nur wenige Jugendliche politisch mitarbeiten wollen. Allerdings hebt er hervor, dass es auch andere Beispiele gibt und nennt das Projekt des „Krifteler Jugendforums“, an dem über 20 Jugendliche seit über einem Jahr engagiert mitarbeiten. Auch diesem Nachmittag melden sich vier, die im Krifteler Jugendforum aktiv in der Gemeindepolitik mitarbeiten. Seitz betont noch einmal, wie wichtig und spannend gerade die Kommunalpolitik ist. „Hier kann sich jeder mit seinem Thema einbringen“, betont er. Auf der kommunalen Ebene habe man noch richtig Einfluss. „Da bist Du eine Stimme von 20 Mitgliedern im Jugendforum und nicht von 82 Millionen“, hebt er hervor. Daher sehe man hinterher dann auch, wofür man sich eingesetzt habe und was in der Gemeinde entstehe. Schülerin Nathalie, Mitglied im Jugendforum, kann dem Rathauschef nur beipflichten: “Ich kann dort mitbestimmen, was in Kriftel verhandelt wird, und gebe Jugendlichen eine Stimme“, erklärt sie nachdrücklich.

Jedenfalls bekommt diese Art von politischer Arbeit an diesem Tag in der Diskussion mit dem Bürgermeister weitaus mehr Zustimmung als die Aktionen der sogenannten Klimakleber. „Diese Aktionen sind übertrieben“, findet Schülerin Lulya. Der stellvertretende Schulleiter schmunzelt: Hier sei eben nicht die letzte, sondern die nächste Generation befragt worden. Bei der abschließenden schnellen Umfrage unter den Testwählern, wer der amtierende Ministerpräsident Hessens, ernüchtert das Ergebnis. Kaum einer der hier Anwesenden weiß das auf Anhieb. Alexander van de Loo

Auch bei den Kids ist die CDU der Wahlsieger - Am Wahlsonntag ab 18 Uhr wurden auch die Stimmen in der Weingartenschule ausgezählt. 574 Stimmen wurden abgegebenen, 25 Stimmen waren ungültig. Die Wahlbeteiligung lag bei 89,3 Prozent. 21 Parteien standen zur Wahl. Auf die CDU entfielen 32,1 Prozent der Stimmen, die SPD erhält 26,2 Prozent, FDP und AfD erhalten je 7,5 Prozent. Für die GRÜNEN stimmten 8,2 Prozent der Schüler/innen, für die LINKE 4,4 Prozent. Die sonstigen Parteien bekommen zusammen 58 Stimmen. van de Loo