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Speed-Dating mit Politiker/innen
Dialog macht Schule – acht Minuten Diskussion pro Politiker/in
Über Politikverdrossenheit liest man viel. Auch über die Kluft zwischen denen, die regieren, und denen, die regiert werden. Die neue Generation, die nicht nur eine „letzte Generation“ ist oder sein möchte, ist ebenfalls in aller Munde. Die Unzufriedenheit mit der Politik geht bei jungen Menschen in Deutschland weit über die Tagespolitik hinaus. Das belegt eine Studie der Vodafone Stiftung Deutschland von 2022. Obwohl die Mehrheit der jungen Menschen (66 Prozent) ihre Generation als eine wahrnimmt, die politisch etwas verändern möchte, hat weniger als ein Drittel (29 Prozent) das Gefühl, Politik beeinflussen zu können.
Drei Viertel (75 Prozent) erleben die deutsche Demokratie als zu schwerfällig, um aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu lösen. Entsprechend pessimistisch blicken junge Menschen nach vorne: 86 Prozent machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Nur acht Prozent haben die Hoffnung, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird als ihnen.
Günstigere Fahrkarten und Informatik ab Klasse 5?
Gründe genug, einmal selbst nachzuhaken und näher hinzuschauen, wie denn unsere Politiker ticken und sich im Alltag geben. Genauer gesagt in einem Schulalltag. In der Weingartenschule (WGS) in Kriftel. Dort fand letzte Woche der so genannte „Dialog P.“ statt. Eine von Berlin initiierte Idee, Schüler und Schülerinnen mit Landtagsabgeordneten zu konfrontieren und sich in Diskussionen kennenzulernen. Oberstudienrätin Manuela Becker hatte mit den beiden Klassen G10a und G10b diesen Tag minutiös vorbereitet. Sie hatten viele Themen ausgewählt.
Sechs blieben übrig, wie der Stellvertretende Schulleiter Alexander Heyd erklärt: Sollte das Bahnsystem so ausgebaut werden, dass die Fahrkarten günstiger werden und Menschen vom Autofahren umsteigen? Sollte das Schulsystem zeitgemäßer werden und Alltagsthemen wie Kochunterricht und Umgang mit Geld in den Fächerkanon aufgenommen werden? Sollte Cannabis für Menschen ab 18 Jahren im Krankheitsfall legal durch Apotheken erhältlich sein? Sollte es für Schüler ab Klasse fünf sowie für Lehrer einen intensiven Informatikunterricht geben? Sollte Satelliteninternet flächendeckend installiert werden? Sollte bezahlbares Wohnen ausgebaut werden?
Die Moderation des Vormittags mit den Politikern, die nach und nach eintrudeln, übernehmen die Zehntklässler Leticia und Firat. Im Eltern-Sprechzimmer hat sich das Presse-Team der Schüler eingerichtet, die einen Podcast aufnehmen. Paul, Lara, Leonie und Christoph hoffen, „dass die Politiker diesen Termin ernst und sich Zeit für Fragen nehmen“. Christoph ist da eher skeptisch. „Was kann man denn schon groß tun?“, fragt er rhetorisch und resigniert zugleich. Da werde sich so schnell nichts ändern.
Abgeordnete hautnah
In der Aula herrscht derweil lebhafter Betrieb. Es wird getuschelt, letzte Vorbereitungen werden getroffen. Je sechs Schüler/innen an sechs Tischen warten gespannt. Eine Art Speed-Dating mit Politikern soll stattfinden. Dafür, dass technisch alles funktioniert, sorgt der ehemalige WGS-Schüler Samuel mit seinem Assistenten Levin. Dann sitzen die Politiker mit erwartungsvollen Gesichtern auf dem Podium vor den Schülerinnen und Schülern: Fabian Beine (CDU) ist als Ersatzkandidat für Axel Wintermeyer gekommen, mit Abstand der jüngste Politiker in dieser Runde. Hans Ulrich Voss von der AfD vertritt den ursprünglich genannten Heiko Scholz, wie geplant gekommen sind Lukas Schröder (GRÜNE), Kerstin Geis (SPD), Thomas Schäfer (FDP) und Dr. Ulrich Wilkens (LINKE). Sie lauschen zunächst der Einleitung von Schulleiterin Elke Wetterau-Bein, die allen Beteiligten „erhellende Erkenntnisse und viel Spaß“ wünscht. Dann stellt per Video Astrid Wallmann, Präsidentin des hessischen Landtags, das Motto des Tages vor: „Demokratie lebt vom Dialog“.
Ein Warm-up der Moderatoren Leticia und Firat lockert die Stimmung auf. Das Auditorium erfährt unter anderem Lieblingsessen und Musikgeschmack der Politiker. Dann kommt es zu dem eigentlichen Wechsel an den Tischen. Jeder Tisch hat sein Thema. Acht Minuten werden die Politiker jeweils an den Tischen verweilen. Die grundlegende Erfahrung mit den Politikern am Tisch: Sie reden. Und sie reden gerne viel. Das veranlasst schon nach der ersten Runde Oberstudienrätin Becker zu einer kleinen Ansprache an die Jugendlichen: „Stoppt auch mal den Redefluss der Politiker und bringt eure Fragen ein. Seid mutig und selbstbewusst!“
„Keine Ahnung von Steuern“
Das klappt dann auch immer besser. An dem Tisch mit den Alltagsthemen in der Schule geht es lebhaft her. Vor einiger Zeit beklagte mit großem Presseecho eine 17jährige Schülerin auf Twitter: "Keine Ahnung von Steuern, aber ich kann Gedichte analysieren." Analog dazu kritisiert dieser Mädchen-Tisch das weltfremde Schulsystem. Die Schülerinnen wollen mehr Realität in den Lehrplänen. „Wie schließt man Handy-Verträge ab, was ist ein SCHUFA Eintrag, wie eröffne ich ein Konto?“, will Schülerin Ravza wissen. Das sind gute Beispiele, die Politiker sind gefordert, sich zu bekennen. Am Nebentisch ist der öffentliche Nahverkehr ein Riesenthema und die Zulassung von Cannabis sowieso.
Die sich aus den Diskussionen ergebenden Pro- und Kontra-Argumente werden von den Tischmoderatoren festgehalten. In einer gemeinsamen Auswertung am Ende der Veranstaltung werden die jeweils zentralen Gesichtspunkte vorgestellt, um schlussendlich über die Streitfragen abzustimmen. Jeder Teilnehmende ist nun aufgefordert, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich zu positionieren. Abgestimmt wird mit Hilfe von grünen und roten Stimmkarten.
Politiker sind auch „richtige Menschen“
Die Ergebnisse werden von allen Beteiligten mit Spannung erwartet: Das Bahnsystem auszubauen, findet 100prozentige Zustimmung. Ebenso mehr Lebensrealität im Schulplan. Bezahlbaren Wohnraum wünschen sich ebenfalls 100 Prozent. Weniger eindeutig sind die Ergebnisse bei den anderen Themen. So steht es 50:50 bei Cannabis und dem IT-Unterricht. Das Satelliteninternet kann die wenigsten Zustimmungen verbuchen.
Und wo lagen die Sympathien? Fabian Bein konnte durch seine Jugend punkten („man merkt, dass der noch Bezug zur Schule hat“) und habe nachvollziehbar gesprochen. Die Schülerinnen und Schüler konnten dadurch mehr mit ihm anfangen. Leticia fand es interessant, Politiker auch mal als „richtige Menschen“ zu erleben, die echte Berufe hätten und davon erzählten. Dadurch seien sie „anfassbarer“. Schüler Ben betont, wie gut es sei, sie einmal von ihrem hohen Ross herunterkommen zu sehen.
Ein positives Fazit zu der Aktion DialogP ziehen alle Beteiligten: Die Schülerinnen und Schüler waren überrascht von der persönlichen Atmosphäre mit den Politikern. Die Politiker/innen selbst zeigten sich doch in der ein oder anderen Fragestellung überrascht von der Unmittelbarkeit der Situation. Die beiden Lehrkräfte der WGS, Becker und Heyd, sind der Meinung, der Einsatz habe sich gelohnt für die politische Bildung. Man rede in der Politik viel zu viel übereinander, viel zu wenig miteinander und noch weniger mit Jugendlichen.
Der Stellvertretende Schulleiter Alexander Heyd bringt es am Ende auf den Punkt: „Veranstaltungen wie diese sind für uns sehr wichtig, wir brauchen kommende Generationen als streitbare Demokraten in unserer Gesellschaft.“ Wie das gehen kann, wurde an diesem Vormittag in der WGS erfolgreich durchgeführt. Alexander van de Loo